Dienstag, 27. März 2007

Viele Fragen

drängen sich auf. Wie sehr waren viele der Forscher, die die heute zugänglichen Texte schrieben, von den gegenwärtigen Religionen beeinflußt? Wie viele Forscher haben einfach unterstellt, daß die Männer immer die beherrschende Rolle als Führer und kreative Neuerer gespielt haben, um diese Annahme dann in ihre Analyse alter Kulturen einfließen zu lassen? Warum glauben so viele Menschen, die in diesem Jahrhundert zur Schule gingen, daß das klassische Griechenland die erste bedeutende Kultur war, wo doch mindestens fünfundzwanzig Jahrhunderte vor dieser Zeit die Schrift entwickelt wurde und große Städte erbaut wurden? Und vielleicht am wichtigsten: Warum wird das Zeitalter der "heidnischen" Religionen, die Zeit, als weibliche Gottheiten verehrt wurden, fortwährend als dunkel und chaotisch angesehen (wenn man sie überhaupt erwähnt), als mysteriös und böse, ohne das Licht der Ordnung und des Verstandes, das die späteren männlichen Religionen angeblich kennzeichnete? Dabei ist doch der archäologische Beweise erbracht worden, daß Gesetz, Regierung, Medizin, Landwirtschaft, Architektur, Metallurgie, Fahrzeuge mit Rädern, Keramik, Textilien und geschriebene Sprache ursprünglich in Gesellschaften entwickelt wurden, die die Göttin verehrten? Wir können uns nur wundern, warum leicht zugängliche Informationen über Gesellschaften, die jahrtausendelang die uralte Schöpferin des Universums verehrten, nicht genutzt wurden.




Trotz vieler Hinweise sichtete und sammelte ich die existierenden Informationen und begann das, was ich zusammengetragen hatte, zu verbinden und in Beziehung zu setzen. Als ich damit anfing, nahmen die Bedeutsamkeit, die Dauer und Komplexität dieser vergangenen Religion vor mir allmählich Gestalt an. Oftmals waren nur eine Erwähnung der Göttin, ein Teil eines Mythos, eine dunkle Anmerkung in vier- oder fünfhundert Seiten gelehrter Abhandlung versteckt. Eine verlassene Tempelanlage auf Kreta oder eine Statue im Museum von Istanbul ohne Begleitinformation fand ihren Platz im umfassenden Bild.
Indem ich diese Bruchstücke mit äußerster Sorgfalt zusammensetzte, begann ich schließlich die ganze Wirklichkeit zu verstehen. Es war mehr als die Inschrift eines alten Gebetes, mehr als ein künstlerisches Relikt hinter Museumsglas, mehr als ein grasbewachsenes Feld, das mit Bruchstücken von Säulen oder den Grundsteinen übersät war, die einst einen alten Tempel getragen hatten. Im Zusammenhang offenbarten die Stücke dieses Puzzles die umfassende Struktur einer geographisch weitverbreiteten und bedeutenden Religion, die jahrtausendelang das Leben vieler Menschen beeinflußt hatte. Wie die heutigen Religionen war sie tief eingebettet in die Muster und Gesetze der Gesellschaft, die Moral und die Haltungen, die mit diesen theologischen Vorstellungen einhergingen und wahrscheinlich tief in das Bewußtsein sogar von Agnostikern und Atheisten reichten.
Ich spreche nicht von einer Wiederkehr der alten weiblichen Religion. Dazu schreibt Sheila Collins:


Die Hoffnung auf Erfüllung liegt für uns Frauen in der Gegenwart und der Zukunft und nicht in irgendeiner mythischen goldenen Vergangenheit.


Ich hoffe allerdings, daß ein neues Bewußtsein von der einstmals weitverbreiteten Verehrung der weiblichen Gottheit als der weisen Schöpferin des Universums und allen Lebens und jeglicher Zivilisation dazu dient, all die repressiven und falsch begründeten patriarchalen Bilder, Stereotype, Bräuche und Gesetze zu durchbrechen, die von den Führern der späteren, männlichen orientierten Religionen entwickelt wurden. Denn, wie ich später erklären werde, wirken die ideologischen Erfindungen der Verfechter späterer männlicher Gottheiten, durch die die alten Kulte und Bräuche überlagert und zerstört wurden, noch immer, selbst auf die areligiösesten Menschen der Gegenwart, ein: Sie sind im Bildungswesen, im Recht, in der Literatur, der Ökonomie, Philosophie, Psychologie, den Medien und den allgemeinen sozialen Verhaltensweisen unserer gegenwärtigen Gesellschaft enthalten.



Aus:
Merlin Stone, Als Gott eine Frau war. Die Geschichte der Ur-Religionen unserer Kulturen, Goldmann Verlag 1988 (Merlin Stone, When God was a Woman)

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